November 22, 2022

Film-Tagebuch Nummer 1: Zeiten des Umbruchs von James Gray

Gesehen am 09. November 2022.

Der aktuelle Eintrag in meinem persönlichen Film-Tagebuch widmet sich dem Autorenfilmer James Gray (u.a. Ad Astra) und seinem semi-biografischen Film Zeiten des Umbruchs. In dem Werk bedient sich der Regisseur dem Coming-of-Age-Genre. Diese Filme der Kindheit und Adoleszenz geben einem oft ein warmes Gefühl der Nostalgie, einen Wunsch nach alten Freundschaftskreisen und das Zurückdenken in vergangene Zeiten. Doch wie lässt sich dieses Empfinden in Einklang mit einer von Diskriminierung behafteten Zeit bringen? James Gray stellt sich diese Frage in Zeiten des Umbruchs und wie er sie beantwortet, erfahrt ihr in meiner Kritik.*

Anschließend findet ihr noch ein Top 5 Ranking meiner liebsten Coming-of-Age-Filme. Viel Spaß!

*Anmerkung: Diese Filmkritik wurde parallel auch auf Mediazine veröffentlicht.

 

Zeiten des Umbruchs (Armageddon Time, USA 2022: James Gray)

Paul (Banks Repeta) wächst in New York der 1980er Jahre auf.: Er bildet das jüngste Mitglied einer priviligierten jüdischen Familie. Doch zwischen seiner viel beschäftigten Mutter Esther (Anne Hathaway), seinem bemühten, aber strengen Vater Irving (Jeremy Strong) und seinem streitsüchtigen Bruder Ted (Ryan Sell) fühlt er sich oft einsam und verloren. Allein sein liebevoller Großvater Aaron (Anthony Hopkins) scheint ihn wirklich zu verstehen und seine Interessen zu fördern. Zu Beginn des neuen Schuljahres lernt Paul den Schwarzen Jonathan (Jaylin Webb) kennen, der in ärmlichen Verhältnissen bei seiner kranken Großmutter lebt. Die beiden Jungen freunden sich an und geraten stets in Schwierigkeiten, doch die Loyalität der beiden können zunächst auch die Einsprüche von Pauls Familie nicht gefährden. Als Paul jedoch gezwungermaßen die Schule wechseln muss, dauert es nicht lange, bis ihm immer mehr bewusst wird, dass nicht jeder in dieser Welt die gleichen Chancen hat.

© 2022 Focus Features, LLC.

Glorifizierung der Kindheit?

Semi-biographische Filme über die Kindheit oder nostalgisch aufgeladene Ortsteile kamen in den letzten Jahren kontinuierlich auf die große Leinwand. Kenneth Branagh gewann für sein autofiktionales Werk Belfast von 2021 den Academy Award für das beste Originaldrehbuch und erst dieses Jahr bescherte uns Paul Thomas Anderson mit Licorice Pizza eine jugendliche Odysee durch San Fernando Valley. Auch James Gray neuste Regiearbeit ist inspiriert von dem eigenen Lebensweg des Regisseurs und erzählt eine Geschichte des Amerikanischen Traums, Diskriminierung in den vereinigten Staat und dem Spalt zwischen Familien- und Freundschaftsverhältnissen.

Mit einer großartigen Szene beginnt Zeiten des Umbruchs (ein konträrer und damit dummer Titel zum Originaltitel: Armageddon Time): Das neue Schuljahr hat begonnen und der strenge Lehrer Mr. Turkeltaub (Andrew Polk) bestraft bereits nach wenigen Minuten sowohl Paul als auch Jonathan für ihre rebellische Art im Klassenzimmer. Das Gefühl einer freundschaftlichen Brücke bildet der Rahmen dieser Institution. Schon bald soll der Lehrer sich als diskriminierende Person offenbaren, als er stets Jonathan für Auffälligkeiten verantwortlich macht. Auch wenn diese Art der Erzählung plump erscheinen mag, konstituiert diese individuelle Haltung bereits die dahinterstehende Systematik und gesellschaftliche Haltung der vereinigten Staaten sowie das porträtierte Zeitgeschehen.

Kindliche Naivität

Der in New York geborene Filmemacher entlarvt sich selbst als Heuchler, in dem er die Geschichte einer heuchlerischen Familie erzählt, was in diesem Fall nicht ausschließlich als negatives Element angesehen werden sollte. James Gray hat das Drehbuch selbst erfasst und versucht gar nicht, Lösungsvorschläge für die hervorgerufenen Ansätze zu liefern. Pauls Familie wird in einer anfänglichen Szene an einem Essenstisch vorgestellt – erneut eine starke Eröffnungsszene eines Settings und der Charaktere, der die Dynamiken clever inszeniert. In den Dialogen fallen stets diskriminierende Bemerkungen von der Großmutter und den anderen Beteiligten, die ohne affektive Szenerie in den Raum geworfen werden. Das Geschehene wird stets aus der Perspektive des jungen Pauls erzählt.

Die kindliche Naivität spiegelt sich sowohl in der Narration als auch in der Inszenierung wider. Dem Hauptcharakter wird erst bewusst, welche Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft vorhanden sind, als er die überprivilegierte Schule besucht, in der ausschließlich weiße Kinder erlaubt sind. Als sein Freund Jonathan ihn schließlich an dem Zaun des Pausenhofs besucht, muss er sich vor seinen Mitschülern erklären. Er fällt selbst in diese diskriminierende Muster und weiß nicht, warum dem so ist. Regisseur James Gray scheint selbst die Rolle der Naivität anzunehmen, indem er sich einerseits seiner eigenen Biografie bedient und andererseits die Inszenierung auf den unbescholtenen Blick der Jugendlichkeit anpasst. Wenn die beiden Freunden durch die Straßen wandern, dann ist die Kamera immer ganz nah bei den Protagonisten, als würde sie einen Schleier um sie bilden wollen, den die Historizität nicht zulassen kann. Auch das Spiel mit Tiefenschärfe ist ein omnipräsentes Mittel, der den gespaltenen Blick repräsentiert.

© 2022 Focus Features, LLC.

Film der Privilegien

Zeiten des Umbruchs ist selbst ein Film der Privilegien. Der weiße Filmschaffende James Gray ist sich dessen bewusst und schrammt so oft an Machenschaften des white saviorism vorbei. Die Ohnmacht der schwarzen Community in New York der 1980er ist Teil des Zeitgeschehens und verändern sich selbst durch die jugendlichen Traumszenarien, die audiovisuell immer wieder eingeschoben werden, nicht. Dass sich dies in den heutigen USA nicht verändert hat, vermag der Film zwanghaft durch das Einbinden der Trump-Familie vermitteln (so spielt Jessica Chastain die ältere Schwester Maryanna von Donald Trump). In diesen Momenten wirkt es, als wolle James Gray seine eigene Positionierung überdeutlich hervorheben, um nicht missverstanden zu werden. Kritik kann dennoch kommen, da der Autorenfilmer sich weitgehend auf die Probleme von Paul fokussiert. Allerdings sucht Gray nicht den Weg eines unschuldigen Kindes, der durch die umgebenden Institutionen wie Familie, Schule oder der Gesellschaft allgemein widerständig bleibt, sondern zeichnet ihn ambivalent und zuweilen verunsichert. Halt scheinen ihm in diesem Leben nur zwei Personen zu geben: Zum einen sein Freund Jonathan, der nicht als Verantwortlicher für sein rebellisches Tun gilt, aber verantwortlich gemacht wird. Und auch wenn ihre Loyalität und Ehrlichkeit stark ist, wird selbst die kindliche Naivität durch die Realität zerbrochen. Zum anderen sein Großvater, der ihn in kleinen und intimen Szenen wie ein Ratgeber des Lebens auf das Erwachsenenleben vorbereiten möchte. Es scheint, als könne das Genre des Coming-of-Ages-Filmes in dieser Welt eigentlich nicht existieren, da es keinen Platz für so eine Freundschaft gibt. Sowohl die Protagonisten als auch die dynamische Inszenierung versuchen sich zu wehren, scheitern jedoch.

Fraglich bleibt die Familienzeichnung und -konstellation, die durch ihre zwanghafte Uneindeutigkeit aufgesetzt wirkt. Pauls Vater ist streng und wird gewalttätig, in anderen Momenten agiert er lustig und wird nicht gewalttätig. Pauls Mutter scheint fürsorglich zu sein, doch schaut nur zu, wenn ihr Kind geschlagen wird. Die scheinbare Ambivalenz der Charaktere bewirkt das Gegenteilige und lediglich Anthony Hopkins kann in seiner Rolle vollends aufgehen, der aktuell gewissermaßen den fünften Frühling seiner Filmkarriere erlebt. Auch die beiden Jungschauspieler haben eine spielerisch-schöne Dynamik und präsentieren ein Gefühl von Freundschaft, das melancholisch und gleichzeitig betrübt macht.

Generell wirkt der Coming-of-Age-Film als schändliche und moralisierte Historizität überthematisiert. Wenn Regisseure semi-biografisch ihre Geschichte erzählen wollen und dabei negative Geschichten der Gesellschaft einbauen, kann das nur funktionieren, wenn sowohl die Perspektive nicht zu eindeutig wird als auch die Szenerie nicht durch Überdramatisierung eingebunden wird. James Gray gelingt es – ähnlich wie Paul Thomas Anderson – eine Geschichte über Privilegien und Ungerechtigkeit zu erzählen, ohne sich dabei selbst nicht zu inkludieren. Vielleicht fällt die Bewertung allerdings nur so aus, weil der Film durch meine weißen, privilegierten Augen rezipiert wurde.

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Fazit

7/10

Zeiten des Umbruchs karikiert den Amerikanischen Traum und zerstört ihn durch die kindlich-naiven Augen eines rebellischen Jungens und der Verbindung zu seinem Freund. Dass sich die Zeiten wohl niemals enden werden, steht als betrübtes Fazit unter diesem Werk. James Gray ist ein gefühlvoller Film gelungen, der sich seiner Ambivalenz manchmal zu bewusst ist.


Die besten Coming-of-Age-Filme:
Ein Top-5-Ranking

2 Comments

  • Sehr schön und professionell geschriebene Kritik. Sinvolle Gliederung und toll, dass das Fazit am Ende auch optisch hervorgehoben ist.
    In der Anmekrung am Anfang kannst du noch einen direkten Link zu mediazine-online hinterlegen.
    Für meinen persönlichen Geschmack ist der Text etwas lang, außerhalb des Uni-Kontext hätte ich vermutlich Teile davon übersprungen.

  • Schön geschriebene Kritik! Ich finde es besonders gut, dass du die Einleitung und dein Fazit visuell vom restlichen Text abgegrenzt hast. Das hat diesem doch sehr langen Beitrag einen schönen optischen Rahmen gesetzt.

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