Februar 2, 2023

Film-Tagebuch Nummer 2: Bones and All von Luca Guadgagnino

Gesehen am 14. November 2022.

Der italienische Regisseur Luca Guadagnino pflegte in seinem wohl bekanntesten Film Call Me By Your Name bereits eine bildgewaltige Romanze und in seinem Remake von Suspiria (2018) ging es bereits nicht zimperlich umher. Der zweite Eintrag in meinem persönlichen Film-Tagebuch soll sich nun seinem neusten Werk widmen: Diesmal verschlägt es ihn in die weiten Straßen der Vereinigten Staaten – und auch diese Romanze vereinigt blutige Explosivität. Wie sich diese obskure Mixtur offenbart, erfahrt ihr in meiner Kritik zu Bones and All.

Anschließend findet ihr noch einen Mini-Podcast zum filmischen Motiv des Vampirischen, der auch in Bones and All auffällig wird.


Bones and All (USA 2022: Luca Guada-
gnino)

Bones and All erzählt die Geschichte der ersten Liebe zwischen Maren (Taylor Russell), einer jungen Frau, die lernen muss, am Rande der Gesellschaft zu überleben, und dem temperamentvollen Außenseiter Lee (Timothée Chalamet). Als die beiden sich kennenlernen, beginnt eine tausend Meilen lange Odyssee durch die Schleichwege, versteckten Durchgänge und Hintertüren im Amerika der Reagan-Ära. Doch trotz all ihrer Bemühungen führen alle Wege Maren und Lee zurück in ihre schockierende Vergangenheit – und zu der alles entscheidenden Frage, ob ihre Liebe zueinander ihr Anderssein überwinden kann.

© 2022 Warner Bros. Pct.

Lust auf Fleisch

Der Film präsentiert im Grunde genommen ein klassisches Road-Movie. Durch eine prägnante Anfangsszene erfährt man, dass Maren eine Begierde nach Menschenfleisch besitzt, die ihr Vater (André Holland) versucht, durch Isolation und Einschränkungen im Zaun zu halten. Auf der Flucht vor der Offenbarung dieser Lust und den entsprechenden Konsequenzen flieht Maren schließlich alleine durch verschiedene Staaten des Landes, um ihre verschollene Mutter zu finden und trifft dort unverhofft auf Leidensgenoss:innen, die ihre Triebe teilen. Zunächst wird sie von Sully (Mark Rylance) aufgespürt, der sich selbst ebenso als ,Eater‘ bezeichnet und eine ganz eigene Technik für seinen Kannibalismus aufweist…

Die Geschichte von Bones and All basiert auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis, wobei sich der Titel auf die jeweilig größte Stufe des Kannibalismus-Aktes bezieht, bei der das Fleisch mitsamt der Knochen verspeist wird. Diese dunkle Begierde drückt sich in der Narration in zahlreichen makaberen Szenen aus, bei der sich die ,Eater‘ rund um die Hauptprotagonist an lebendigen Menschen vergehen, um ihre Gelüste zu stillen. Dabei verzichtet Guadagnino nicht auf eine grafische Visualisierung dieses Vorgehens und verschont seine Schauspieler:innen in z.T. absurden Szenarien nicht von blutigen Ausbrüchen.

Das Motiv des Vampirischen wirkt in Bones and All allgegenwärtig. Zwar sind es in dieser Geschichte keine Blutsauger:innen sondern Kannibalen, die Metaphorik lässt sich problemlos anwenden. Auch in RAW von Julia Ducournau spiegelt sich diese Motivik in dem Kannibalismus einer jungen Erwachsenen wider, die durch ihren Fleischkonsum eine Metamorphose erfährt. Bones and All entpuppt sich als feministischer Road-Trip und die Suche nach der eigenen Identität. In der Narration löst sich die Hauptprotagonistin im Laufe des Geschehens etwa von allen männlichen Charakteren, um der Suche nach der Mutter ihren eigenen Sinn zu verleihen. Was sich nach plakativer Ablösung des männlichen Patriacharts klingt, erzählt der italienische Filmregisseur in sinnlichen Bildern, die in ihren naturalistischen Einschüben an Terrence Malick erinnern und durch die später aufkommende Romanze mit Lee in Claire Denis‘ Radikalität münden.

© 2022 Warner Bros. Pct.

Gewalt trotz Liebe oder Liebe trotz Gewalt?

Wenn schließlich Lee in das Geschehen eintritt, dann scheint es, als würde sich die explizite Gewalt in eine Romanze transformieren. Diesen Schluss weiß das Werk mittels drastischer Sequenzen zu kreuzen: Die Romantik und Anziehung des Liebespaares entfaltet sich nicht trotz des Blutrausches, sondern mit dem anhaltenden Kannibalismus. Die Parallelen zu Claire Denis Trouble Every Day sind eklatant und die Szene, als Lee zu KISS tanzt, scheint eine direkte Referenz an Grégoire Colins Charakter in U.S. Go Home zu sein. Die Kamera begleitet die Protagnost:innen in Bones and All in solch einer Dynamik, dass es wirkt, als würde die Inszenierung selbst zu einem ,Eater‘ werden, der die fleischliche Geborgenheit aus jeglichen Entfernungen riechen kann. Eine Geborgenheit, die die Gesellschaft nicht zulassen kann und Konsequenzen nur eine Formsache sind. Dass der Film ebenso als Allegorie für Drogensucht und Identitätskrisen stehen kann, vermittelt die stetige Ohnmacht und Gleichgültigkeit abseits der entfachten Liebe.

Timothée Chalamet wirkt als Außenseiter mit rot gefärbten Haaren und ausgeleierten Hemden in einem Film, der für die Generation Z wie zugeschnitten wirkt, fast schon klischeehaft. Und dennoch ist die Chemie mit Taylor Russell so magnetisch; so absurd; stellenweise so triefend, dass das vielleicht die filmische Romanze des Jahres darstellt. Auch der restliche Cast tut sein Übriges: Mark Rylance pendelt zwischen Genie & Wahnsinn und alleine seine schläfrige Stimme vermittelt stetiges Unbehangen; Michael Stuhlbarg und der Filmemacher David Gordon Green bekommen einen absurden Kurzauftritt; in André Hollands Augen könnte ich mich nach Moonlight immer verlieren und Chloë Sevigny kann als Marens Mutter einen schockierenden Moment abliefern.

Der Soundtrack von Bones and All reiht sich in den Kanon der beschriebenen Zielgruppe ein: Von a-ha bis Joy Divsion findet man hier die Spotify-Playlist eines Kunststudierenden vor. Spätestens wenn Atmosphere von New Order zu den weiten Panoramabildern von Kameramann Arseni Khachaturan ertönt, weiß man: Das ist einfach unfassbar gute Musik. Allzweckwaffe Trent Reznor fungiert (zusammen mit Atticus Ross) als Komponist, sein Main-Thema hätte aber wohl dosiert ausfallen können. Was sich zusätzlich in der Narration noch hinterfragen lässt, ist die Entscheidung, das Ende von Bones and All als suspensvollen Psychothriller ausfallen zu lassen. Denn – ohne viel zu verraten – das Wiederkehren eines Protagonisten zielt allenfalls darauf an, die Dramatik in das buchstäblich Unendliche zu drängen.

Fazit

8/10

Luca Guadagnino ist mit seinem neusten Film eine mystische Romanze gelungen, bei der das Motiv des Vampirischen zur Geborgenheit der Liebe transformiert und nicht ausschließlich als Metapher für eine feministische Sinnsuche fungiert. Der vielleicht romantischste Film des Jahres zieht seine Kraft gerade aus dem triebhaften Verlangen nach menschlichem Fleisch.


Das Motiv des Vampirischen im Film:
Ein Audio-Feature

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